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Goibniu grinste. Über die ganze Landschaft verstreut sah er kleine Menschengruppen – manche zu Pferde oder in Reisekarren, aber zumeist eine Herde Vieh antreibend – dem Hügel entgegenziehen, der sich in der Mitte der Ebene erhob.

Uisnech – das Zentrum der Insel.

Eigentlich besaß die Insel zwei Mittelpunkte. Der königliche Hügel von Tara, der nur eine kurze Tagesreise weiter östlich lag, war das politische Zentrum. Aber das geographische Zentrum des Landes befand sich hier in Uisnech. In einem gewaltigen Hagelschauer hatten sich, so ging die Sage, von Uisnech aus die zwölf Flüsse der Insel gebildet. Manche nannten ihn den Nabel der Insel – den kreisrunden Hügel in der Mitte.

Während Tara der Hügel der Könige war, galt Uisnech als der Hügel der Druiden, das religiöse und kosmische Zentrum der Insel. Hier lebte die Göttin Eriu, die der Insel ihren Namen gab. Hier hatte, sogar noch bevor die Tuatha De Danann ins Land kamen, ein mystischer Druide das erste Feuer entzündet, dessen Glut anschließend zu jedem Herd auf der Insel gebracht wurde. Auf Uisnech befand sich in einer verborgenen Höhle die heilige Quelle, die das Wissen aller Dinge enthielt. Auf dem Gipfel des Hügels stand der fünfseitige so genannte Stein der Unterteilungen, um den herum die heiligen Treffpunkte der fünf Königreiche der Insel lagen. In diesem kosmischen Zentrum pflegten die Druiden regelmäßig ihre geheimen Sitzungen abzuhalten.

Auf Uisnech fand jeweils am ersten Mai die große Versammlung von Beltaine statt. Samhain, das ursprüngliche Halowe’en, sowie das Maifest, genannt Beltaine, waren die zwei wichtigsten Festtage auf dem keltischen Kalender. Das keltische Jahr war in zwei Hälften – in Winter und Sommer, Dunkelheit und Licht – geteilt, und diese beiden Feste bildeten ihre Berührungspunkte. Zu Samhain begann der Winter, zu Beltaine endete er, und der Sommer übernahm die Herrschaft. Die Nacht vor diesen beiden Festen war eine besonders unheimliche Zeit, denn in dieser Nacht trat der Kalender in eine Art Zwischenzustand, in dem er außer Kraft gesetzt wurde, da es weder Winter noch Sommer war. Der Winter, die Jahreszeit des Todes, trat mit dem Sommer, der Jahreszeit des Lebens, die Unterwelt mit der Oberwelt in Berührung. Geister gingen um, die Toten mischten sich unter die Lebenden. Es waren Nächte sonderbarer Begegnungen und flüchtiger Schatten – geradezu Furcht einflößend zu Samhain, da sie einen zum Tode führten; zu Beltaine jedoch weniger beängstigend, denn im Sommer hatte die Geisterwelt nur schelmische Streiche und erotische Spielereien im Sinn.

Goibniu liebte das Beltaine–Fest. Er mochte zwar nur ein Auge haben, aber in jeder anderen Hinsicht war er ein ganzer Mann. Während er zusah, wie die Menschen von allen Seiten herbeiströmten, befiel ihn heftige Vorfreude und Erwartung. Wie lange schon hatte er nicht mehr die Wärme einer Frau gespürt?

* * *

Gegen Abend hatten sich Tausende von Menschen in dem rosigen Dämmerlicht versammelt und warteten auf den Aufstieg. Die muntere Weise eines Pfeifers tanzte um den Fuß des Hügels, die Luft knisterte vor Erwartung.

Deirdre beobachtete, wie ihre Brüder Büschel aus grünem Laub trugen. Ein altes Weib, das ihnen die grün belaubten Reiser überreichte, hatte sie gefragt, ob sie auch vorhätten, sich für diese Nacht ein paar Mädchen zu suchen. Deirdre hatte nichts dazu gesagt. Am Ende dieser Nacht, wenn alle reichlich getanzt und gesoffen hatten, würde es im Schutz der Dunkelheit zu allen möglichen unerlaubten Paarungen kommen. Junge Liebespärchen, reifere Ehefrauen, die ihren Männern entwischt waren, Männer, die ihre Gemahlin kurz im Stich gelassen hatten. So war es stets zur Maienzeit. Aber Deirdre selbst hatte als unverheiratete Tochter eines Häuptlings auf ihren Ruf zu achten. Sie durfte sich nicht die Freiheiten der Hofmägde oder Sklavenmädchen herausnehmen. Aber ihr Vater? Sie blickte ihn neugierig an. Da sie in Kürze das Haus verlassen und heiraten würde, wie sie vermutete, würde Fergus niemanden mehr haben, der ihm den Haushalt besorgte. Würde er vielleicht das Beltaine–Fest dazu nutzen, eine Frau für sich zu finden?

Ihr Blick schweifte über die Menge. Irgendwo unter all diesen Menschen befand sich auch Conall. Sie hatte ihn noch nicht entdeckt; aber sie wusste, dass er dort sein musste. Er war nicht gekommen, um nach ihr zu suchen. Sie hatte gesehen, dass der Hochkönig mit großem Gefolge anwesend war; wenn der Prinz sie zu sehen wünschte, brauchte er sich nur auf die Beine zu machen. Wenn nicht… Dann konnte sie auch nicht mehr länger warten. Ihr Bräutigam war bereits unterwegs, und man konnte ihm keine Abfuhr erteilen.

Vielleicht begehrte Conall sie, aber nur so, wie es in der Mainacht üblich war, und mehr nicht. Würde er vielleicht an sie herantreten, ihr eine Liebesnacht anbieten und sie danach wieder ihrem Schicksal überlassen? Nein. Dafür war er zu vornehm. Aber was war, wenn er in der Nacht auf dem Hügel wirklich zu ihr kam? Was war, wenn er plötzlich wie ein Geist an ihrer Seite auftauchte? Sie berührte? Sie im Dunkel mit seinen Blicken fragte? Was würde geschehen, wenn Conall… Würde sie mit ihm gehen? Würde sie sich ihm hingeben wie ein Sklavenmädchen? Was für ein Gedanke!

Als die Sonne unterging, begann die Menge den Hügel hinaufzuströmen. Im selben Augenblick wurden überall auf der Insel ähnlich heilige Hügel wie dieser bestiegen. In der Beltaine–Nacht hielt die ganze Gemeinschaft gemeinsam Wache, um sich gegen die bösen Geister zu schützen, die in dieser magischen Nacht umgingen. Die Geister stahlen den Menschen die Milch, gaben ihnen wunderliche Träume ein, verzauberten sie und führten sie vom rechten Weg ab.

* * *

Wie seltsam Conalls Gesicht im Schein der Sterne wirkte. Einen Moment lang, dachte Finbarr bei sich, sah es so hart und fest wie der fünfeckige Stein aus, der nur vierzig Schritt weit entfernt in der Mitte des Hügelgipfels stand. Konzentrierte man sich noch eine Weile länger auf dieses Antlitz, so könnte man meinen, es würde sich auflösen und mit der Dunkelheit verschmelzen. Konnte Conalls Gesicht einfach zerschmelzen? Nein. Dieser Eindruck kam nur von dem schwach funkelnden Schimmer des Sternenlichts auf dem Tau, der sich auf all ihren Gesichtern bildete.

Schon bald würden sie die ersten Anzeichen der Dämmerung erkennen. Dann kam das Sonnenaufgangsritual und danach, bei vollem Tageslicht, die große Zeremonie mit den Beltainefeuern. Aber noch war es Nacht. Selten hatte Finbarr den Himmel so klar gesehen, die Sterne strahlten aus der schwarzen Finsternis; die Ebene rings um den Hügel war mit einem dünnen Schleier von Bodennebel bedeckt, dem das Sternenlicht einen zarten Schimmer verlieh, so dass der Hügel von Uisnech mit seinem aufragenden Menhir auf einer Wolke in der Mitte des Kosmos zu stehen schien.

»Ich hab sie gesehen«, sagte er leise, so dass nur Conall es hören konnte.

»Wen?«, fragte Conall.

»Du weißt nur zu gut, dass ich Deirdre meine.« Finbarr hielt inne, aber da von Conall keine Reaktion kam, fuhr er fort: »Sie ist dort drüben.« Und er zeigte in eine Richtung zu seiner Rechten. Conall hatte den Kopf gewandt, so dass sein Gesicht nun im Schatten lag. »Willst du sie nicht sehen?« In dem langen Schweigen, das darauf folgte, bewegten sich nur die Sterne weiter, aber Conall gab keine Antwort. »Du weißt, dies sind die letzten Tage«, flüsterte Finbarr. »Ihr Bräutigam wartet bereits. Willst du denn gar nichts dagegen unternehmen?«

»Nein.«

»Solltest du es ihr nicht sagen?«

»Nein.«

»Du bist also nicht interessiert an ihr.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Du bist einfach zu kompliziert für meinen Verstand, Conall.« Finbarr sagte nichts mehr, aber er fragte sich: War dies irgendeine sonderbare Selbstverleugnung, in die sein Freund sich da verstieg, wie Krieger oder Druiden es zuweilen taten? War es das Zögern, die Angst, die die meisten jungen Männer befällt, wenn sie vor eine Verpflichtung gestellt sind? Oder war es etwas anderes? Warum trieb Conall dieses Mädchen bewusst einem anderen Mann in die Arme? Es kam Finbarr ungeheuerlich vor. Aber er konnte zumindest versuchen, seinem Freund zu helfen. Er konnte es zumindest versuchen.

* * *

Inzwischen war die Hälfte des Himmels bleich erhellt. Die Sterne begannen zu verblassen. Entlang des Horizonts zeigte sich ein goldenes Glühen.

Der Hochkönig beobachtete es gebannt. Bei Morgendämmerungen wie dieser konnte er noch heute eine innere Erregung spüren, als sei er wieder ein junger Mann. Aber seine Gedanken kreisten ausschließlich um jene ernsthafte Angelegenheit, die ihn schon die ganze Nacht hindurch beschäftigt hatte. Sein Entschluss stand bereits seit einiger Zeit fest. Er hielt seinen Plan für vollkommen. Nur ein einziges Element, ein kleines, aber bedeutendes, fehlte noch, bevor er ihn in die Tat umsetzen konnte.

Zuerst einmal musste natürlich eine gute Ernte erzielt werden. Er hatte den Druiden großzügig Geschenke, Schmeicheleien, Respektsbeweise überbracht. Die Priester würden also auf seiner Seite sein, auch wenn man ihnen nicht zu sehr vertrauen konnte, denn sie waren eitel.

Dann musste er seine Autorität wieder herstellen. Den schwarzen Stier zu rauben, wäre ein guter Anfang, da hatte seine Gemahlin Recht. Aber es war mehr als nur eine Demonstration der Macht vonnöten. Ein König musste geachtet, ein Hochkönig musste gefürchtet werden und undurchschaubar sein wie ein Gott.

Die Zeit war reif, um dort zuzuschlagen, wo seine Feinde es am wenigsten erwarteten, und er wusste genau, wie er vorgehen würde. Ihm fehlte nur ein einziger Mosaikstein, um ihn an die richtige Stelle zu setzen – nur noch eine einzige Person, für die er sich noch nicht entschieden hatte. Und wer weiß, vielleicht würde er diese Person heute finden.

* * *

Conall hatte den Rest der Nacht über kein Wort gesagt. Mochten seine Motive für Finbarr auch undurchsichtig sein, so waren sie für ihn selbst äußerst klar.

Seine Hauptsorge war der Rinderraub. Als Larine vor einiger Zeit mit ihm gesprochen hatte, hatte er ihm versichert, dass der Hochkönig in der Sache noch keine Entscheidung getroffen und dem Druiden versprochen hatte, zuerst mit seinem Neffen persönlich zu sprechen. Wochenlang hatte er ängstlich darauf gewartet, dass sein Onkel ihn auf das Thema ansprechen würde, was aber nicht geschah. Er vermutete, dass die Pläne des Hochkönigs sich geändert hatten. Und das zunehmende Gefühl der Erleichterung, das er darüber empfand, hatte ihn in seinen Gedanken bestärkt, ein Druide zu werden.

Aber da war noch die Sache mit Deirdre. War sie Teil seiner Bestimmung zum Priester? War er bereit, zu seiner Verantwortung zu stehen, den unwiderruflichen Schritt zu wagen, nach Dubh Linn zu gehen und sie als Ehefrau zu fordern? Immer wieder hatte er, während die Tage und Monate verstrichen, diese Frage erwogen. Und doch hatte ihn jedes Mal, wenn er daran gedacht hatte, nach Dubh Linn zu gehen, etwas zurückgehalten. Und schließlich war er, bevor er nach Uisnech aufbrach, zu der Erkenntnis gelangt, die ihm ein nicht geringes Maß an Seelenfrieden verlieh. Wenn ich immer noch nicht zu ihr gegangen bin, dachte er, dann muss der Grund dafür sein, dass ich sie nicht aufrichtig begehre. Und daher ist sie nicht meine Bestimmung.

Kurz vor dem Moment, da die Sonne aufgehen würde, berührte Finbarr ihn am Arm und zeigte auf eine Stelle etwas weiter links von ihnen. »Wir sollten dort hinübergehen. Dort können wir den Sonnenaufgang besser sehen.«

Obwohl ihm der Unterschied vernachlässigenswert erschien, erhob Conall keine Einwände, und so setzten sie sich in Bewegung.

Inmitten der Tausenden von Menschen auf den Hängen von Uisnech harrten sie dem magischen Augenblick entgegen. Der Horizont glühte. Die riesige Scheibe der Sonne brach aus der flüssigen Umarmung des Horizonts hervor. Ihr goldener Glanz breitete sich über die neblige Ebene aus und setzte den Tau auf der ihr zugewandten Seite des Hügels in Flammen. Und nun begann, so weit das Auge reichte, einer der wundervollsten Maitagsbräuche der keltischen Welt: das Baden im Tau.

Deirdre bückte sich, formte die Hände in dem funkelnden Nass des Taus zu einer Schale und wusch sich das Gesicht. In ihrer Nähe wälzte eine Frau ihren nackten Säugling sanft im Gras. Nun richtete sich Deirdre wieder gerade auf und benetzte sich noch einmal aus hohler Hand das Gesicht mit Tau; und dann streckte sie ihre Arme weit aus, so dass sie die Wärme der aufgehenden Sonne auf ihren Brüsten spürte, warf ihren Kopf zurück, und ihre Brüste hoben und senken sich, so als atmete sie die Sonnenstrahlen tief in ihre Lungen ein.

Conall stand da und starrte sie an, von Finbarr beobachtet. Da wurde dem jungen Prinzen bewusst, dass Finbarr ihn in eine Falle gelockt hatte. Er warf einen finsteren Blick auf seinen Freund und entfernte sich.

* * *

Die Hitze war gewaltig. Die Reihe der Rinder zog sich endlos hin. Sie waren die Nacht über in Pferchen gehalten worden und wurden nun eines nach dem anderen zu den Feuern geführt; das Prasseln und Knistern der brennenden Zweige erschreckte sie. Eine Reihe kleinerer Feuerstellen lenkte sie zu zwei großen lodernden Scheiterhaufen, zwischen denen sie hindurchlaufen mussten. Sie begannen zu brüllen; manche mussten mit dem Ochsenziemer angetrieben werden. Aber der – zumindest für menschliche Augen – furchtbarste Anblick waren nicht die brennenden Feuer, sondern die Gestalten, die wie eine Schar riesiger wilder Vögel direkt hinter dem Flammentor versammelt standen.

Während der Beltaine–Zeremonien trugen die Druiden von Uisnech riesige Umhänge in prächtigen Farben mit hoch aufragenden Spitzen in Form von Vogelköpfen, wodurch sie fast um die Hälfte größer als normal erschienen. Jedes Tier wurde, während es zwischen den reinigenden Feuern hindurchgeführt wurde, mit Wasser bespritzt. Auf diese Weise sollte die Gesundheit des Viehbestands gesichert werden.

Larine stand neben einer älteren Druidin. Obwohl die meisten Druiden Männer waren, hatte es immer auch weibliche Druiden gegeben. Solche Frauen, die häufig die Gabe des »zweiten Gesichts« oder der Hellsicht besaßen und zur Einweihung in die Mysterien des Druidentums zugelassen waren, konnten Furcht einflößende Persönlichkeiten sein. Die Könige fürchteten bereits den Tadel der männlichen Druiden, aber Spott oder Verachtung aus dem Munde eines weiblichen Druiden war oft noch gefährlicher. Und dieses alte Weib war in der Tat gefährlich.

Eigentlich hätte Larine seine Aufmerksamkeit auf die Viehkolonne richten sollen. Etwa fünfzig Tiere hatten das Feuertor noch nicht passiert. Da es hier furchtbar heiß war und es so viele Tiere waren, hatten sich die Druiden untereinander abgelöst. Larines Schicht war nun beendet, und er befreite sich von seinem schweren Federumhang. Während die ältere Druidin über die Feuer wachte, schweifte sein Blick über die Ebene weiter unten.

Er machte sich Sorgen wegen eines Gerüchtes, das ihm im vergangenen Monat zu Ohren gekommen war und das die Christen betraf. Er wusste, dass es diese schon seit über zwanzig Jahren auf der westlichen Insel gab. Sie bildeten winzige Gemeinden – hier eine Kapelle, dort ein Bauerngehöft. Eine verstreute Schar von Missionspriestern predigten vor den christlichen Sklaven der Gegend, und, wenn sie Glück hatten, vor einigen ihrer Herren. Als Druide hatte Larine Genaueres über sie in Erfahrung bringen wollen. Im Süden von Leinster hatte er die Bekanntschaft eines christlichen Priesters gemacht, mit dem er sich eingehender über die christliche Lehre unterhielt. Und dieser Priester hatte ihm im vergangenen Monat von dem Gerücht erzählt: »Es heißt, die Bischöfe von Gallien trügen sich mit der Absicht, weitere Missionare auf die Insel zu entsenden, um die Gemeinde zu vergrößern und sich vielleicht sogar an den Hochkönig zu wenden.« Einzelheiten hatte der Priester nicht gewusst. Die Namen der Missionare waren ihm unbekannt. »Man sagt, sogar der Heilige Vater habe die Mission gebilligt.«

Vor einem Jahrhundert hatte das mächtige Römische Reich das Christentum als Staatsreligion angenommen. Seit mehreren Generationen waren sich die Druiden der westlichen Insel daher im Klaren, dass sie die letzte, einsame Bastion der alten Götter verteidigten. Ihre Zuversicht schöpften sie aus dem Wissen, dass es im Römischen Reich noch Oasen des alten Glaubens gab, heidnische Tempel in Britannien zum Beispiel. Auch war die westliche Insel durch das Meer geschützt. Da die römischen Garnisonen im Begriff waren, sich aus Britannien und Gallien zurückzuziehen, schien die Gefahr gering, dass Rom das Reich des Hochkönigs behelligen könnte. Was vermochten die christlichen Priester ohne die römischen Truppen schon auszurichten? Die kleinen Gemeinden im Süden der Insel wurden toleriert, da sie keinen Anlass zu Klagen boten. Sollte es den christlichen Missionaren einfallen, den Hochkönig zu belästigen, so würden die Druiden sich schon um sie kümmern.

Dies hatte Larine dem Priester zu verstehen gegeben, und vielleicht hatte er es zu unverblümt getan, denn der Priester war darauf in Zorn geraten: Es sei noch nicht allzu lange her, dass die Druiden sogar noch Menschenopfer dargebracht hätten. Larine möge sich doch bitte daran erinnern, wie der Prophet Elias die heidnischen Baalpriester besiegt habe. »Er erschien zu ihrem Fest«, hatte der Priester erklärt, »und errichtete einen mächtigen Scheiterhaufen, der sofort lichterloh brannte, sobald er zu Gott dem Herrn betete, während die Baalpriester außerstande waren, den ihren auch nur in Brandzustecken. Nehmt Euch also in Acht«, hatte er streng hinzugefügt, »dass die Missionare des wahren Gottes nicht zum Beltaine–Fest erscheinen, um Euch eine Schmach zu bereiten.«

»Die Beltainefeuer brennen lichterloh«, hatte Larine erwidert. Dieser Christ, so dachte er bei sich, war nur ein Opfer schöner Wunschvorstellungen.

Und doch hatte ihn irgendetwas, er konnte nicht benennen, was genau, an der Unterhaltung beunruhigt. So absurd es auch schien, hatte er heute schon mehrmals heimlich in die Runde geblickt, um festzustellen, ob sich nicht doch einer jener christlichen Priester hierhergewagt hatte, um Verwirrung zu stiften. Aber das war nicht der Fall. Die Beltainefeuer brannten lichterloh, und nichts konnte die heiligen Zeremonien stören.

Doch da war noch etwas, was Larine Sorgen bereitete: Conall. Soeben war der Prinz in der Menge aufgetaucht, die sich auf der anderen Seite jenes Weges scharte, auf dem die Rinder entlanggeführt wurden, nachdem sie den Durchgang zwischen den Feuern passiert hatten. Nun stand er direkt hinter der vorderen Reihe, aber seine Größe verschaffte ihm eine gute Sicht auf die Feuerstellen. Er hatte Larine nicht bemerkt und machte einen angespannten und ernsten Eindruck, während die Menschen um ihn herum die Festlichkeiten genossen.

Einige Rinder, die durch die Feuer geführt wurden, waren besonders prachtvolle Tiere. Die Bauern, die von weither gekommen waren, brauchten nicht ihre gesamte Herde mitzuführen, sondern oftmals nur ihr bestes Tier, gewöhnlich einen Zuchtstier, der als Stellvertreter für die übrigen diente. Und gerade jetzt wurde ein prachtvoller brauner Bulle von einer hünenhaften Gestalt und einem Mädchen hindurchgeführt. Der Mann, schon sehr alt und mit langem Schnauzbart, war, so vermutete Larine, ein kleinerer Häuptling. Aber das Mädchen mit dem goldenen Haar war eine faszinierende Erscheinung. Ihr Gesicht, aber auch ihre Arme leuchteten von der Hitze des Feuers glutrot. Der Druide hatte den Eindruck, als glühe ihr ganzer Körper. Auch Conall schien die beiden bemerkt zu haben, denn er starrte sie unverwandt an. Welch ein Kontrast zwischen seinem angespannten weißen Gesicht, dachte der Druide, und der lebhaft roten Wangenglut des Mädchens: wie ein bleiches Schwert vor der Esse einer Schmiede. Das Mädchen lief geradewegs an Conall vorüber, ohne ihn anzublicken – sofern sie ihn überhaupt bemerkt hatte. Wahrscheinlich wusste sie nicht, wer er war. Dann trabte bereits ein nächstes Tier am Feuer vorbei, aber Larine merkte, dass der junge Prinz immer noch direkt vor sich hin starrte und wie ein Gespenst aussah.

Er wandte sich an die Druidin neben sich.

»Was haltet Ihr von Conall?«

»Warum fragst du?«

»Ich mach mir Sorgen um ihn.«

»Oh.« Die Druidin blickte ihn scharf an. »Und was willst du von mir wissen, Larine?«

Larine blickte auf ihr schmales Gesicht, das voller Runzeln war. Ihr Haar, das ihr fast bis zur Hüfte herabfiel, war grau, aber ihre Augen, deren Farbe blässestes Blau war, könnten durchaus die einer jungen Frau gewesen sein, und sie waren sonderbar durchsichtig. Er versuchte, ihr so knapp wie möglich zu antworten. Würde sein Freund glücklich werden? Würde er ein Druide werden? Aber noch während er fragte, zuckte sie nur ungeduldig die Schultern.

»Törichte Fragen.«

»Warum?«

»Conalls Schicksal ist bereits vorausgesagt. Es steht in seinen gessa geschrieben.«

Larine runzelte die Stirn. Was immer man über ihn sagen mochte – Conall war stets vorsichtig gewesen. »Ihr wisst, dass er niemals Rot trägt, denn diese Farbe ist in seiner Familie mit Unglück belegt. Ich kann mir nicht denken, dass er einen gessa übertreten wird.«

»Aber er muss sie übertreten, Larine, da er sonst nicht Sterben kann.«

»Das ist wahr«, bestätigte Larine, »aber das liegt noch weit in der Zukunft; und was mir Sorgen macht, ist die Gegenwart.«

»Woher willst du das wissen? Ist es deine Sache, über solche Dinge zu entscheiden? Als Druide müsstest du das besser wissen.« Sie hielt inne und blickte ihm scharf in die Augen. »Nur noch das eine will ich dir sagen und mehr nicht. Das erste der drei gessa – die Beerdigung seines Gewandes wird dein Freund Conall schon sehr bald übertreten.«

Als er in die Augen der Alten und darauf nach dem bleichen Gesicht seines Freundes blickte, spürte Larine, wie ihn ein kalter Schauer durchfuhr. Sie besaß wahrhaftig das zweite Gesicht.

»Und wie bald?«

»In drei Tagen. Und nun Schluss mit den Fragen.«

* * *

Finbarr war mit sich zufrieden. Das gesamte Vieh war durch das Feuer getrieben worden. Bald würde das Festmahl des Hochkönigs beginnen. Und hatte er Conall nicht gerade einen mächtigen Gefallen erwiesen? Wenn sein Freund diesmal nicht die Gelegenheit beim Schopf packte, war es dessen Sache.

Das Festmahl des Hochkönigs begann am frühen Nachmittag und würde sich bis weit in die Nacht hinein ziehen. Man hatte eine riesige Banketthalle mit Wänden aus Weidengeflecht errichtet, darin Tische und Bänke mit Platz für dreihundert Gäste. Pfeifer und Harfenisten, Tänzer und Barden würden auftreten. Die großen Häuptlinge und Druiden, die Gesetzeshüter und edelsten Krieger würden alle zugegen sein. Und natürlich auch Conall. Dreißig junge Frauen aus den vornehmsten Familien, jede die Tochter eines Häuptlings, würden der Festgesellschaft Met und Hellbier kredenzen.

Und auch hier hatte Finbarr gute Vorarbeit geleistet. Deirdre sollte eine der Frauen sein, die ausschenkte. Es war eine Gefälligkeit seitens der Frau gewesen, die für die Mädchen zuständig war. Darauf eine kurze Besprechung mit Fergus und seiner Tochter. Deirdre hatte verlegen gezögert, aber ihr Vater hatte ihr befohlen, zu gehorchen. Sicher hatte sie noch keine Ahnung, dass man sie anweisen würde, Conall Bier einzuschenken. Auch dafür hatte Finbarr gesorgt. Und mehr, sagte sich Finbarr, konnte er wirklich nicht tun.

* * *

Mittag war vorüber, und das Festmahl hatte bereits begonnen, als Goibniu, der Schmied, auf die Festhalle zustrebte. Er war äußerst schlechter Laune, und der Grund dafür war höchst einfach: Es war ihm nicht gelungen, sich eine Frau zu verschaffen.

Am Tag zuvor hatte er ein hübsches dralles Weib kennen gelernt, das mit einem Bauern aus Leinster verheiratet war. In der Abenddämmerung hatte sie zu ihm gesagt: »Mein Alter hockt wie festgeleimt bei mir. Wart nur noch eine Weile.« Später in der Nacht war sie wiedergekommen und hatte ihm zugeflüstert: »Wart auf mich im Morgendämmer da drüben bei dem Dornbusch.« Dann hatte er die Frau nicht mehr zu Gesicht bekommen – bis vor wenigen Augenblicken, als er sie im Arm eines hünenhaften Kerls beobachtete, der ganz gewiss nicht jener Landmann aus Leinster war. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät gewesen, um noch einen Fang zu machen. Wer eine Gespielin suchte, hatte sie längst gefunden. Einmal hatte sich zwar ein Mädchen an ihn herangemacht, aber es war so reizlos gewesen, dass es seinen Stolz verletzte. Goibniu war todmüde und frustriert. Ein anderer an seiner Stelle hätte sich jetzt einfach einen Rausch angetrunken. Aber das lag ihm nicht. Außerdem hatte er gerade etwas gesehen, was ihn an seine eigentliche Aufgabe hier erinnerte.

Es war jener große Kerl aus Dubh Linn. Der mit der Tochter, die er verkauft hatte. Und doch war von dem Mädchen nichts zu sehen. Goibniu trat zu ihm.

Was war es nur, was den gerissenen Schmied an Fergus so argwöhnisch machte? Schon aufgrund der übertrieben freundlichen Art, mit der Fergus ihm, als Goibniu sich erkundigte, ob Deirdre da sei, geantwortet hatte: »Aber natürlich! Aber natürlich!«, war dem Schmied klar geworden, dass etwas faul war. Seine Miene verfinsterte sich.

»Also werde ich sie gleich mitnehmen.«

»Aber natürlich, das kannst du. Daran besteht kein Zweifel.«

Es kam nicht häufig vor, dass der gerissene Schmied sich von seiner Laune übermannen ließ, aber die Erfahrung, die er vergangene Nacht gemacht hatte, beeinträchtigte sein Urteilsvermögen. In einem jähen Zornesausbruch, in dem seine Verachtung nicht zu verkennen war, platzte er heraus: »Haltet Ihr mich für einen Narren? Sie ist doch überhaupt nicht hier.«

Diese unverblümte Verachtung verletzte Fergus. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und blickte hasserfüllt auf Goibniu herab. »Bist du etwa hergekommen, um mich zu beleidigen?«

»Nichts«, entgegnete der Schmied, »schert mich so wenig wie die Frage, ob ich Euch beleidigt habe oder nicht.«

Und nun, als sein Gesicht blutrot anlief, wäre es jedem, der ihn kannte, sonnenklar gewesen, dass Fergus, der Sohn des Fergus, tatsächlich sehr zornig wurde.

* * *

Deirdre wusste, dass sie gut aussah. Sie konnte es an den neugierigen Blicken ablesen, die ihr die anderen Mädchen zuwarfen, die in wallenden Kleidern durch das Gras zum Eingang der Festhalle strömten. Und warum, so fragte sie sich, sollte ich auch nicht bezaubernd aussehen? Waren meine Vorfahren nicht ebenso wohlgeboren wie die der andren Frauen hier? Sie fühlte sich geradeso wie eine Prinzessin.

Allerdings war sie furchtbar verlegen geworden, als Finbarr ihren Vater aufgesucht hatte. Was die beiden von ihr erwarteten, kam für sie einer Demütigung gleich. »Ich kann nicht«, hatte sie geschrien. Denn wie würde es aussehen, wenn sie auftauchte, wo sie nicht hätte auftauchen sollen, und sich Conall aufdrängte, so dass es alle sehen konnten? Aber die Männer hatten sie dazu gezwungen, und nachdem es einmal so weit gekommen war, hatte sie einen Entschluss gefasst: Sie würde den jungen Prinzen gar nicht beachten. Er durfte ruhig von ihr Notiz nehmen, wenn es ihm beliebte. Sie würde sich hoch erhobenen Hauptes bewegen und die anderen Männer sehen lassen, was für eine Prinzessin sie war. Hatte sie nicht bereits einen Gemahl, der auf sie wartete? Mit diesen Gedanken trat sie in die Festhalle.

Es roch nach Bier und Met, nach geschmortem Obst und fett gebratenem Ochsenfleisch. In der Mitte der Halle stand ein riesiger Kessel, randvoll mit hellem Bier, auf den Tischen daneben waren kleinere Krüge voll Met. Ringsum an den Wänden reihten sich die Tische, an denen die Gesellschaft saß. Rote und blaue, grüne und goldene Töne – das prächtige Gewand und der strahlende Schmuck der Häuptlinge und ihrer Gemahlinnen verliehen der Halle einen leuchtenden Glanz. Alles unterhielt sich und lachte aus vollen Kehlen, und doch waren die sanften Klänge der drei Harfenisten noch herauszuhören.

Sowie sie eintrat, fühlte sie die Blicke der Männer auf sich gerichtet, aber es bekümmerte sie nicht. Mit grazilen Bewegungen verrichtete sie ihre Arbeit, schenkte wie befohlen mit einem höflichen Wort oder freundlichen Lächeln Bier und Met ein, gab sich abgesehen davon aber kaum die Mühe, den Gästen auch nur ins Gesicht zu sehen. Einmal musste sie sogar vor dem Hochkönig in Person vorübergehen, und sie registrierte mit einem heimlichen Blick aus den Augenwinkeln sein Gesicht, das sie eher unsympathisch fand. Er schien mit seiner Frau in ein intensives Gespräch vertieft zu sein. So beschäftigt war sie, dass sie es zunächst kaum bemerkte, als man sie beim Bedienen allmählich zu dem Platz lenkte, an dem Conall saß.

Wie blass er aussah und wie ernst. Sie bediente ihn wie jeden anderen auch, ja, sie widmete ihm sogar ein Lächeln.

»Es freut mich, Euch zu sehen, Deirdre, Tochter des Fergus.« Seine Stimme war sanft und würdevoll. »Ich wusste gar nicht, dass Ihr auch an dem Bankett teilnehmen würdet.«

»Ich selbst war genauso überrascht, Conall, Sohn des Morna«, antwortete sie freundlich und schritt rasch weiter, ohne ihn noch einmal anzublicken.

Sie musste noch mehrmals an seinen Tisch zurückkehren, aber da sprachen sie nicht mehr miteinander. Einmal sah sie, wie sein Onkel, der Hochkönig, ihn zu sich befahl, aber dann wurde ihre Aufmerksamkeit von einem Pfeifer abgelenkt, der zu spielen begann.

Als Conall von der Unterredung mit dem Hochkönig zurückkehrte, fühlte er sich sehr verunsichert. Die dunkelblauen, leicht blutunterlaufenen Augen seines Onkels funkelten unter ihren schweren schwarzen Brauen auf eine Art hervor, die zu erkennen gab, dass ihm nichts entgangen war.

»Nun, Conall«, hatte er begonnen, »wir feiern hier das Beltaine–Fest, und dennoch machst du ein trauriges Gesicht.«

»Das täuscht.«

»Hm. Sag mal: Wer ist eigentlich dieses Mädchen – die, mit der du gerade gesprochen hast? Habe ich sie nicht schon einmal gesehen?« Conall erklärte, so gut er konnte, wer sie war und dass ihr Vater der Häuptling von Dubh Linn war.

»Dieser Fergus ist ein Häuptling, sagst du?«

»Ja, das stimmt.« Conall musste schmunzeln. »Zwar nur ein kleiner. Doch seine Vorfahren waren Männer von einiger Bedeutung.«

»Auf alle Fälle hat er eine bezaubernd aussehende Tochter. Ist sie verlobt?«

»Es gibt eine Absprache, glaube ich. Mit einem Mann aus Ulster.«

»Aber eigentlich« – der König machte verschmitzte Augen »hättest du sie gern für dich?«

Conall fühlte, wie er rot wurde. Er konnte nichts dagegen tun.

»N–nein, überhaupt nicht«, stammelte er.

»Hm.« Sein Onkel nickte, dann beendete er das Gespräch; allerdings war Conall, nachdem er wieder an seinen Platz zurückgekehrt war, nicht entgangen, dass der König Deirdre nachdenklich betrachtete. Hatte sein Onkel ihm eine versteckte Botschaft übermitteln und andeuten wollen, dass er sie heiraten sollte? Zumindest gab er ihm zu verstehen, dass man ihm deutlich ansah, dass er in das Mädchen verliebt war. Und war er nun, aus welchen Gründen auch immer, nicht drauf und dran, sie einem anderen zur Frau zu überlassen? Ohne dass er den Anstand aufbrachte, ihr wenigstens eine Erklärung zu geben? Und warum? Wollte er es wirklich so?

Eine Weile saß er da, redete mit keinem ein Wort. Schließlich blickte er wieder auf und sah, dass Deirdre sich näherte. Sie kam so nahe heran, dass er, wenn er seine Hand ausstreckte, ihr goldenes Haar hätte berühren können.

»Deirdre, Tochter des Fergus«, sagte er ganz leise, aber sie hörte es doch. Sie wandte den Kopf. Bemerkte er, wenn auch nur einen flüchtigen Moment lang, einen schmerzlichen Ausdruck in ihren wundervollen Augen? »Ich muss mit Euch sprechen. Morgen früh. In der Dämmerung.«

»Wie Ihr wünscht.« Sie wirkte zögerlich.

Er nickte ermunternd. Das war alles. Und sie wollte sich gerade entfernen, als ein Gebrüll anhob.

Alle Köpfe fuhren herum; Druiden runzelten die Stirn; der Hochkönig schleuderte zornige Blicke; sogar der Pfeifer verstummte. An dem heiligen Ort Uisnech, während des Beltaine–Fests, wagte es jemand, den Frieden zu stören.

Das Gebrüll ging weiter. Dann plötzlich Stille. Ein Diener des Königs trat in die Festhalle und meldete dem König etwas, worauf dieser mit einem düsteren Nicken reagierte. Wenige Augenblicke später wurden zwei Männer hereingeführt. Der erste, der ziemlich aufgebracht wirkte, war Goibniu, der Schmied. Hinter ihm, geradezu das Musterbild eines Häuptlings, den man beleidigt hatte, schritt Fergus drein. Conall blickte in die Richtung, wo Deirdre nun stand, und sah, dass sie leichenblass wurde. Als die beiden vor dem König standen, ergriff dieser das Wort. Er sprach ruhig und leise, zuerst zu Goibniu.

»Der Grund des Streits?«

»Ich hatte eine Meinungsverschiedenheit mit diesem Mann.«

»Worüber?«

»Dass seine Tochter nicht hier ist. Sie ist einem Mann in Ulster versprochen, und ich habe sie dorthin zu führen. Außerdem« – er blickte Fergus voller Verachtung an – »hat mich der Kerl geschlagen.«

Dann wandte sich der Hochkönig an Fergus. Dies war also der Häuptling aus Dubh Linn. Ein einziger Blick, und er verstand Fergus vollkommen.

»Und doch ist seine Tochter hier, wie du siehst«, sagte er, auf Deirdre zeigend. Goibniu blickte in seine Richtung und war sprachlos. »Was habt Ihr zu sagen, Fergus?«

»Dass der Mann mich einen Lügner genannt hat«, sagte Fergus hitzig und fügte dann etwas ruhiger hinzu: »Aber meine Tochter ist eines Prinzen würdig, und nun habe ich sie in Ungnade gebracht.«

Mit einem heimlichen Blick aus den Augenwinkeln sah der König, dass mehrere der bedeutenden Edelleute dem armen, in seinem Stolz verletzten Häuptling zustimmende Blicke zuwarfen.

»Es scheint, Goibniu«, sagte er gütig, »du hast dich, was das Mädchen betrifft, geirrt. Was meinst du: Ist es nicht möglich, dass du dich auch mit dem Schlag geirrt hast? Vielleicht hast du nur geglaubt, er würde dich gleich schlagen?« Und dabei blickte der König den Schmied unverwandt mit seinen dunkelblauen Augen an.

Was immer Goibniu war, töricht war er wirklich nicht.

»Ja, so könnte es gewesen sein«, räumte er ein.

»Du könntest ja auch ein wenig verwirrt gewesen sein.«

»Verwirrt? Ja, das ist nicht auszuschließen.«

»Nimm deinen Platz an unsrer Festtafel ein, Goibniu. Und vergiss die Sache. Und Ihr, Fergus’ Sohn, Ihr werdet draußen auf mich warten, denn es kann sein, dass ich Euch etwas zu sagen habe.« Und damit gab er dem Pfeifer ein Zeichen, worauf dieser in sein Instrument zu blasen begann, und das Festmahl nahm wieder seinen Lauf.

Aber während die Festlichkeiten ihren Fortgang nahmen und Fergus draußen vor der Halle wartete und Deirdre voller Ungewissheit, was der König mit ihrem Vater im Sinn hatte, ihren Pflichten nachzukommen versuchte, hatte keiner der Anwesenden die geringste Ahnung, was in Wahrheit im Kopf des Herrschers vor sich ging.

Es läuft bestens, dachte dieser nämlich. Die Bedingungen für seinen Plan waren nun geschaffen. Er musste sich nur noch mit diesem Mann aus Dubh Linn treffen, und dann wäre die Falle für sie alle aufgestellt. Welch überraschenden Glücksbringer hatten ihm die Götter da geschickt! Auf dem Höhepunkt des Festes würde er seine Ankündigung machen. Genau im Moment des Sonnenuntergangs.

* * *

Spät an jenem Nachmittag fand vor einer amüsierten Menge eine kleine Zeremonie statt, bei der einer der älteren Druiden als Zeuge zugegen war.

Fergus und Goibniu standen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Auf Geheiß des Druiden trat Goibniu als Erster vor. Er riss sein Hemd auf und entblößte seine Brust, worauf Fergus feierlich vortrat, eine Brustwarze des Schmieds zwischen die Lippen nahm und ein paar Augenblicke lang daran saugte. Dann trat er zurück, bot seine eigene Brust dar, worauf nun Goibniu auf ihn zutrat und das Kompliment erwiderte. Darauf nickten die beiden Männer einander zu, und der Druide erklärte die Zeremonie für beendet. So pflegten auf dieser Insel zwei Männer, die sich gestritten hatten, ihre Versöhnung zu besiegeln. Von nun an waren Fergus und der Schmied durch ein Band der Freundschaft miteinander verbunden. Sie hatten es auf ausdrückliche Anordnung des Hochkönigs getan. Denn nichts, so ließ er sie wissen, hatte den Frieden des königlichen Festbanketts zu stören.

* * *

Der Prinz und sein Freund standen auf dem Gipfel von Uisnech. Die Sonne berührte den Horizont und warf einen roten Widerschein auf Conalls blasses Gesicht, als er sich seinem Freund zuwandte und meinte, sie sollten nun wieder herabsteigen. Es war an der Zeit, zum Fest zurückzukehren.

»Hast du das Mädchen gesehn?«, fragte Finbarr schüchtern.

»Ja, das habe ich.«

»Und was wirst du nun tun?«

Plötzlich ging Conall ein Licht auf: »Du bist es doch gewesen, der es so eingerichtet hat, dass sie bei dem Festmahl zugegen ist?«

»Ja, das war ich. Verzeihst du mir?«

»Du hast genau das Richtige getan.« Conall lächelte sanft. »Wirst du immer mein guter Freund sein, Finbarr, egal, was auch geschieht?«

»Ja, das werde ich«, versprach Finbarr. »Was wirst du also mit Deirdre tun?«

»Das frag mich morgen.«

Finbarr seufzte. Er wusste, dass es zwecklos war, das Thema weiter zu verfolgen. Stattdessen streckte er seine Hand aus und kniff seinem Freund liebevoll in den Arm.

Als sie unten ankamen, begann es bereits dunkel zu werden. Am Fuß des Berges wurden Fackeln entzündet. Während sie sich zum Festmahl begaben, sahen sie eine alte Druidin, die Conall zunickte, worauf dieser auf gleiche Art höflich antwortete. Am Eingang der Halle trennten sich die Freunde voneinander, und Finbarr sah zu, wie sein Freund hineinging. Einen Moment später sah er auch Fergus und seine Tochter eintreten. Nun machte der Häuptling ein strahlendes Gesicht. Offensichtlich hatte der Hochkönig Erbarmen mit ihm gehabt; und doch schien es Finbarr, als fühle sich Deirdre sonderbar unwohl in ihrer Haut.

* * *

Der Hochkönig erhob sich, die gesamte Festhalle verfiel in Schweigen.

Ganz ruhig, mit einem leichten Lächeln in seinem fülligen Gesicht, ergriff er das Wort. Er hieß alle willkommen und dankte den Druiden. Den Häuptlingen dankte er für den Tribut, den sie treu entrichtet hatten. Ja, er schätze sich sogar glücklich, sagen zu können, dass es auf der ganzen Insel niemanden gäbe, der mit seiner Zahlung im Rückstand sei. Er hielt inne.

»Außer einen Mann aus Connacht.« Alle Augen waren nun auf ihn gerichtet, lauerten auf Zeichen und Signale. Nun ließ er sein Gesicht ganz langsam zu einem sarkastisch amüsierten Grinsen erstrahlen. »Wie es scheint, war er zufällig gerade nicht in seiner Hütte, als wir vorsprachen.«

Gelächter brach aus. Der Blick des Hochkönigs wurde unmerklich bedrohlicher. »Mein Neffe Conall« – dabei nickte er dem bleichen Prinzen zu – »wird ihm gemeinsam mit einigen anderen einen erneuten Besuch abstatten.« Er blickte in der Halle in die Runde. »Sie werden in der Morgendämmerung aufbrechen.« Er nickte allen freundlich zu. Dann wandte er sich an seine Frau, nickte auch ihr zu und nahm wieder Platz.

Ein leises Aufatmen ging durch den Raum. Doch nun erscholl, einen Moment lang zunächst nervös, dann immer kräftiger anschwellend, Gelächter. Einige Männer begannen beifällig auf den Tisch zu trommeln. »Ausgerechnet zu Beltaine«, rief jemand laut. »Das wird der Mann aus Connacht gewiss nicht erwarten.« Weiteres Gelächter. »Er wird es sehr bedauern, dass er damals nicht zu Hause war.«

Das war der kräftige Schlag der Autorität, gewürzt mit durchtrieben täuschender List, der ihnen Respekt einflößte. Ihnen gefiel der finstere Humor an der Sache. Und wenn sie anstatt des Tributs gar noch diesen prachtvollen Stier heimführten, dann würde ihn die gesamte Insel für die Art seiner Rache bewundern. Manche, die von Conalls Wunsch, ein Druide zu werden, und von seinem Abscheu gegen derlei Abenteuer wussten, blickten jedoch tiefer hinter die Dinge. Selbst der Lieblingsneffe hat sein Haupt unter das königliche Joch zu beugen. »Und doch hat der König Recht«, murmelten diese. »Es musste sein.«

Der Hochkönig blickte zu der Stelle hinüber, wo der arme Conall stand. Sein Neffe wirkte schockiert. Zweifellos hatte Larine dem jungen Mann von seinem Versprechen erzählt, sich zuerst mit ihm zu beraten, bevor er eine solche Entscheidung fällte. Nun, da hatte er eben Pech gehabt. Dies würde sowohl für Larine als auch für seinen Neffen eine Lehre sein. Könige verfügen über Prinzen, wie es ihnen beliebt – das sollten sie beide wissen. Abgesehen davon, dachte sein Onkel bei sich, schien der junge Mann sich so sehr im Unklaren zu sein, was er wirklich wollte, dass er dem Jungen, indem er ihn auf diese Art in die Ferne schickte, vielleicht sogar einen Gefallen tat. Dann blickte er seine Gemahlin an. Sie strahlte ihn an, wie er es erhofft und erwartet hatte. Ihr Wille war geschehen. Er erwiderte ihr Strahlen.

Wenig später erhob er sich erneut, um nochmals das Wort zu ergreifen. Vielleicht sollte jemand geehrt werden. Sie hörten höflich zu.

»Ich habe eine weitere Ankündigung zu machen. Diesmal eine freudige.« Er blickte langsam von einem zum anderen in die Runde, so dass jedem deutlich klar wurde, dass nun ein freudiges Gesicht gefordert war.

»Wie ihr wisst, wurde ich in der Tat mit Glück gesegnet, da ich mich seit vielen Jahren der Gesellschaft meiner liebenswerten Gemahlin erfreue.« Er neigte ihr sein Haupt zu, und sie ließ ein wenn auch nicht ganz von Herzen kommendes Gemurmel der Zustimmung vernehmen. »Und doch ist es bei uns Brauch«, fuhr er fort, »dass wir uns von Zeit zu Zeit noch eine weitere Frau zur Gemahlin nehmen.« Nun trat eine tödliche Stille ein. »Und so habe ich beschlossen, mich zusätzlich zu meiner geliebten Ehefrau mit noch einer weiteren Frau zu vermählen.« Den Gästen im Festsaal verschlug es den Atem. Alle Augen wandten sich der Königin zu, die benommen dreinblickte, als sei sie von einem Stein getroffen worden. Ehemänner, die von ihrer herrschsüchtigen Art wussten, grinsten einander heimlich zu. Die Ehefrauen, zumindest einige von ihnen, waren entsetzt. Und doch hatten nicht wenige von ihnen zu dieser oder jener Zeit unter den Launen der Königin zu leiden gehabt. Und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sich ringsum im Saal wie Nebel, der auf den Blättern der Bäume zu feinen Tautröpfchen wird, der einhellige Gedanke verdichtete: Das hatte sie selbst verschuldet.

Aber wer war die Braut? Auf einen Wink des Königs sahen sie nun eine hoch gewachsene Gestalt mit langem Schnauzbart hervortreten, die von einem bildhübschen Mädchen begleitet wurde, das noch kurz zuvor Bier und Met ausgeschenkt hatte. Die Leute glotzten sich verdutzt an. Was hatte das zu bedeuten?

»Deirdre, Tochter von Fergus, Sohn des Fergus, aus Dubh Linn«, verkündete der König. Und während er Deirdre zuschmunzelte, zog er Fergus näher zu sich heran und legte dem älteren Mann seinen schweren Arm um die Schulter, so dass sich der Häuptling, der nun so selbstzufrieden strahlte, als hätte er eigenhändig eine ganze Armee besiegt, vom Griff seines königlichen Schwiegersohns, so fest wie von einem Schraubstock umschlungen fühlte.

Während der Rest der Gesellschaft noch dabei war, allmählich wieder zur Besinnung zu kommen, sprang Goibniu flink auf die Beine und rief mit hoch erhobenem Becher aus: »Langes Leben und beste Gesundheit für unseren König und für Deirdre.« Den Gästen blieb nichts anderes übrig, als freudig einzustimmen.

Der König hätte sich von der Königin auch scheiden lassen können. Aber dies hätte ihre Familie beleidigt, die bedeutenden Einfluss hatte, während er sie, indem er sich eine zusätzliche Braut suchte, lediglich in ihrer Macht beschnitt. Die Wahl, die er traf, war ein Meisterstreich. Während sich jeder Mann auf der Insel beliebige Nebenfrauen nehmen konnte, musste der König dabei Vorsicht an den Tag legen. Erwählte er die Tochter eines mächtigen Stammeshäuptlings, so beleidigte er alle anderen. Er konnte sich natürlich Konkubinen nehmen, aber das war nicht seine Absicht. Er hatte die Macht der Königin unterminieren wollen, und dies war ihm gelungen. Die Klugheit seiner Wahl bestand darin, dass das Mädchen von adligem Geblüt war und wie eine Prinzessin aussah, dass aber ihr Vater keinerlei Einfluss besaß. Er war Herr über ein Sumpfgebiet, ein Niemandsland, eine gottverlassene, öde Furt.

Der ausersehene Ehemann aus Ulster würde keine Schwierigkeiten machen. Der Hochkönig gedachte einen seiner Männer auszuschicken, um dem Kerl ein großzügiges Geschenk zu machen. Der Mann aus Ulster würde Verständnis haben: Ein Hochkönig hatte Vorrang. Und was Goibniu anbetraf: Den durchtriebenen Schmied hatte er bereits am späten Nachmittag heimlich für den Verlust seiner Vermählungsprämie entschädigt. Damit waren alle zufrieden gestellt – außer vielleicht Conall und das Mädchen.

»Das Hochzeitsfest findet morgen Abend statt«, schloss er seine Rede.

* * *

In jener Nacht war es stockfinster; die Sterne hatten ihre Gesichter hinter den Wolken versteckt. Nicht das geringste Fünkchen Licht wurde von oben gewährt, um Deirdre zu helfen, während sie sich durch die Finsternis tastete, die sich, je dichter sie herankroch, umso schwärzer über sie zu ergießen schien.

Manchmal fühlte sie die Rindshautbahnen der Wagen oder anderer provisorischer Unterstände, von denen das Gelände übersät war; mehrmals störte sie schlafende, in ihre Mäntel gerollte Körper auf. Gelegentlich vernahm sie ein Schnarchen oder anderes, intimeres Getuschel. Ihr Vater war in der Festhalle geblieben und lag neben fünfzig anderen friedlich im Schlaf. Aber sie hatte es dort nicht länger ausgehalten und war hinter den ersterbenden Fackeln ins Freie geflüchtet. Sie versuchte den Weg zu jener Stelle zu finden, wo ihr Reisekarren stehen musste. Es war sonderbar, dass sie ausgerechnet hei ihren beiden vermutlich betrunkenen Geschwistern Trost suchte; aber schließlich waren sie ihre Familie. Eine letzte Nacht im Kreise ihrer Familie.

Und was dann? Die Vermählung mit dem König. Sie machte ihrem Vater keinen Vorwurf. Er hätte nichts dagegen unternehmen können. Sie nahm es ihm nicht einmal übel, dass er zufrieden strahlte. Das war ganz natürlich. Und wie hätte sie ihm erklären können, dass sie, während sie mit ihm vor dem König gestanden hatte, nichts als physischen Abscheu empfunden hatte? Es lag nicht daran, dass der Hochkönig ihr Vater hätte sein können: Ältere Männer konnten durchaus anziehend sein, aber dieses dunkelhäutige Gesicht mit den blutunterlaufenen Augen, dieser aufgedunsene Körper, die Hände, die ihr wie hässliche haarige Pfoten vorkamen, alles an ihm erfüllte sie mit Ekel. Würde sie ihm wirklich in der kommenden Nacht ihren Körper darbieten müssen? War dies die einzige Form von Liebe, die ihr bis zu ihrem Tod jahraus, jahrein beschieden sein würde? Es hatte großer Selbstbeherrschung bedurft, um vor dieser Gesellschaft nicht in aller Offenheit zu erschaudern. Selbst der Mann aus Ulster, hatte sie sich bitter gedacht, wäre nicht so übel gewesen. Er hatte sie nicht abgestoßen. Vermutlich hätte sie ihn sogar zu lieben gelernt.

Und Conall? Was würde er ihr am Morgen sagen wollen? Hatte er sich nach all seinem Warten am Ende doch noch entschlossen, sie zu fragen, ob sie seine Frau werden wollte? Der Gedanke war so schmerzhaft, dass sie ihn kaum ertragen konnte. Aber zwecklos. Zu spät.

Jetzt war ihr, als könne sie in der schwarzen Finsternis vor sich schemenhaft die Konturen des Wagens erkennen. Vorsichtig tastete sie sich näher. Jetzt hatte sie ihn erreicht. Ja, sie war sicher, er war der Richtige. Sie lauschte nach dem Schnarchen ihrer Brüder und begann auf der Rückseite des Wagens die Lederbahn zu lüften.

Und erstarrte zu Eis, als eine Hand ihren Arm umklammerte.

»Na, auf einem kleinen Spaziergang unterwegs?« Die Stimme war ein leises Zischen. Deirdre stöhnte leise auf und versuchte sich loszureißen, doch der Griff an ihrem Arm war zu fest. »Ich habe schon auf dich gewartet.« Diesmal klang die Stimme eher wie ein Knurren. Sie war sich immer noch nicht sicher, wer sie so fest gepackt hielt. Erst bei den nächsten Worten wurde es ihr klar. »Du glaubst wohl, du kannst mich bedrohen?«

Es war die Königin.

»Nein, überhaupt nicht«, stammelte sie. In all ihrem Elend und ihrer Angst hatte sie die Königin vollkommen vergessen. »Das war nicht meine Entscheidung«, sagte sie heiser.

»Kleine Närrin.« Sie spürte den Atem der Königin dicht an ihrer Wange. Er stank nach Bier, er stank verbraucht. »Du glaubst wohl, du kommst mir lebend davon? Sprich gefälligst leiser. Verstanden?«

»Ich…« Deirdre wollte etwas sagen, aber ihr versagte die Sprache.

»Gift, Tod durch Ertrinken, ein Unfall…«, fuhr das entsetzliche Zischen fort. »Leicht zu arrangieren. Wenn du den König heiratest, junge Dame, dann kann ich dir versprechen, dass du keinen Monat lang mehr leben wirst. Hast du mich verstanden?« Der Griff an ihrem Arm war nun so fest, dass Deirdre nur noch die Kraft blieb, nicht laut aufzuschreien.

»Was kann ich tun?« Ihr Flüstern klang fast wie ein Wimmern.

»Das will ich dir sagen.« Die Lippen der Königin pressten sich dicht an ihr Ohr. »Flieh, junge Deirdre. Flieh um dein Leben. Flieh aus Uisnech fort. Flieh aus Dubh Linn fort. Flieh an einen Ort, wo dich niemand finden kann. Lauf noch heute Nacht los und hör nicht mehr auf zu laufen. Denn wenn der König dich findet, dann bringt er dich zurück; und wenn er das tut, dann liegt dein Leben in meiner Hand. Und nun lauf los.«

Plötzlich löste sich der Griff. Sie vernahm ein Rascheln, dann war die Königin verschwunden.

Deirdre schnappte nach Luft. Sie zitterte am ganzen Leib. Sie wollte losrennen, irgendwohin, egal wohin, an einen Ort, wo sie in Sicherheit wäre. Es war nicht ratsam, sich zu ihren Brüdern oder zu ihrem schlafenden Vater zu begeben. Hastig, stolpernd, lief sie los, wusste kaum, in welche Richtung sie rannte, bis sie in der Dunkelheit auf einen Weg stieß, der bergauf führte. Ein Duft nach tiefem Gras umströmte sie. Und dann brach über ihr ein Schwarm Sterne aus den Wolken, und sie erkannte, dass sie den Hügel von Uisnech hinaufstieg.

* * *

Conall saß mit dem Rücken an den großen fünfseitigen Stein auf dem Gipfel von Uisnech gelehnt und starrte in die Finsternis. Seine Stimmung war so schwarz wie die Nacht.

Zuerst diese Bekanntmachung über den Viehdiebstahl. Was ihn so zornig machte, war die Absicht, die sich dahinter verbarg. Anstatt die Sache mit ihm zuvor zu bereden, wie er es Larine versprochen hatte, hatte sein Onkel eine öffentliche Bekanntgabe gemacht, die Conall in eine unmögliche Lage brachte. Von nun an war jede Widerrede ein Aufbegehren gegen den Hochkönig. Sein Onkel hatte die Absicht verfolgt, ihn zu überlisten, ihn als Instrument seiner Macht zu benutzen, ihn mit zynischer Verachtung zu strafen.

Aber das alles war nichts im Vergleich mit dem Schock der zweiten Bekanntmachung. Deirdre war verloren. In diesem letzten Moment, nach Monaten der Schwierigkeiten, der Pein und der Qual war seine Liebe plötzlich unmöglich geworden. Von nun an gehörte sie dem Hochkönig. Sie war unerreichbar. Dass sie seinen Onkel verabscheute, war nicht zu verkennen. Ein einziger Blick in ihr Gesicht hatte genügt, und er wusste Bescheid.

Als er sich die entsetzliche Tatsache vor Augen gehalten hatte, dass sie nie die seine werden konnte, hatte Conall ein ganz neues, intensives Gefühl ergriffen. Es war, als hätten seine Zweifel nie existiert. Deirdre. Er konnte kaum die Augen von ihr lassen. An diesem Abend ertappte er sich die ganze restliche Zeit dabei, dass er, wann immer sie sich in der Halle befand, jede ihrer Bewegungen sehnsüchtig verfolgte. Sie dagegen hatte ihn kein einziges Mal angeblickt. Wie konnte sie auch? Obwohl er einmal, als er sich gerade abwandte, das Gefühl gehabt hatte, als habe er sie dabei überrascht, wie sie in seine Richtung sah. Würde sie immer noch versuchen, ihn in der Morgendämmerung zu treffen? Wahrscheinlich nicht. Was konnten sie sich auch noch sagen? Aber auch nachdem er das Fest verlassen hatte, war ihm das Gefühl ihrer Gegenwart weiter wie ein Schatten gefolgt.

In diesem Augenblick vernahm er hinter dem Stein ein leises Geräusch, und ein Schatten kam heran, sank zu Boden und blieb an die andere Seite gelehnt sitzen, so dass er, wenn er es gewollt hätte, nur mit seiner Hand hinübergreifen musste, um ihn zu berühren; und dann begann der Schatten sanft zu weinen, und eine Stimme, die er kannte, murmelte: »Sie wird mich töten.«

Da er sie nicht erschrecken wollte, rief er ganz leise: »Deirdre.«

Und es dauerte nicht mehr lange, bis er sie in seinen Armen hielt und sie ihm von ihrer Unterredung mit der Königin erzählt hatte.

»Sag mir, Conall, was ich tun soll«, rief sie aufschluchzend. »Wie kann ich fortlaufen und wohin könnte ich fliehen, wenn der König persönlich nach mir sucht und ich ganz allein auf der Welt bin? Wird sie mich wirklich töten? Sag, dass es nicht wahr ist.«

Aber Conall schwieg, denn er kannte die Königin.

So verharrten sie eine Weile, sie zitternd in seinen Armen, während er, obwohl gleichfalls um sie besorgt, darüber sinterte, wie aussichtslos sein eigenes Leben war – bis er schließlich zu einem Entschluss gelangte. Und sobald er ihn gefasst hatte, spürte er eine gewaltige neue Wärme in seinem Kerzen und ein Gefühl des Jubels, das seine Welt, wie ihm schien, mit einem visionären Licht erfüllte. Endlich, dachte er mit Erleichterung, endlich wusste er, was er zu tun hatte.

»Wir werden gemeinsam fliehen«, sagte er, »und wenn es sein muss, bis ans Ende der Welt.«

* * *

Finbarr wartete nervös, während Fergus zögerte.

»Nun?« Der Hochkönig fixierte den Mann aus Dubh Linn mit unerbittlichem Blick.

Die Antwort auf die erste Frage – ob er etwas von dem Plan seiner Tochter, zu fliehen, wusste – war einfach gewesen. Er hatte nichts davon gewusst. Fergus war sogar entsetzt gewesen, und das war ihm deutlich anzusehen. Ob er wisse, dass Conall um Deirdre warb?, lautete die nächste Frage. Er kam zu dem Schluss, dass Ehrlichkeit die beste Taktik war.

»Das wäre für mich eine feine Sache gewesen«, gestand er, »aber es war schwer zu sagen, ob er es ernst meinte. Jedenfalls hat er mich nie um ihretwillen aufgesucht.«

Nun wandten sich alle Finbarr zu: der König, die Königin, die beiden Häuptlinge, die man an diesem Morgen zur Festhalle befohlen hatte. Also tat Finbarr das einzig Vernünftige. Er erzählte ihnen, was er von Conalls Gefühlen wusste und wie er selbst es so eingerichtet hatte, dass Deirdre Conall während des Festmahls am Vortag begegnen musste. Und während er sich vor dem König respektvoll verneigte – und dabei versuchte, die Königin nicht anzublicken fuhr er fort: »Aber da hatte ich noch keine Ahnung, dass Ihr Euch für sie interessiert.« Zu seiner Erleichterung akzeptierte der König dies mit einem kurzen Nicken.

»Das Mädchen ist eindeutig mit Conall durchgebrannt«, schloss der König.

Niemand sprach ein Wort. Angesichts der Beleidigung, die diese Flucht für seinen Stolz und seine Autorität darstellte, dachte Finbarr, musste man die Ruhe bewundern, die der König bewahrte. Aber auch der König schien sich seine Gedanken zu machen. »Ich frage mich«, sagte er nämlich bedächtig, »ob es womöglich noch einen anderen Grund gegeben hat, der sie zu ihrer Flucht bewog.« Alle blickten einander an. Niemand wusste einen solchen Grund zu nennen. Das Gesicht der Königin blieb unbewegt, als sie einwarf: »Was wird jetzt aus dem Stier?«

»Ach ja, der Stier.« Der König blickte in die Runde. »Den soll Finbarr beschaffen.« Er bedachte Finbarr mit einem kalten Blick und fügte hinzu: »Sorg dafür, dass es dir gelingt.«

Wieder neigte Finbarr sein Haupt. Die Botschaft war klar. Der König akzeptierte, dass ihn persönlich kein Vorwurf traf, und er gab ihm sogar noch eine Chance, sich auszuzeichnen. Aber wenn es ihm nicht gelang, dem König zu beschaffen, wonach er verlangte, konnte er gewärtigt sein, dass dies das Ende aller Gunst sein würde.

»Und die Durchgebrannten?«, fragte einer der Häuptlinge.

»Nehmt euch fünfzig Männer«, antwortete der König knapp, »und findet sie. Bringt mir das Mädchen zurück.«

»Und Conall?«

Der König blickte ihn verwundert an und sagte:

»Tötet ihn.«